Neue Studie: Videobotschaften gegen herausforderndes Verhalten bei Demenz
Dabei werden praktische Anwendungen in Pflegeeinrichtungen sowie erste vielversprechende Ergebnisse hervorgehoben. Dr. Anja Rutenkröger, Geschäftsführerin und wissenschaftliche Leitung von Demenz Support Stuttgart, und Renate Berner, wissenschaftliche Mitarbeiterin, geben in einem Interview erste Einblicke aus einem innovativen Forschungsprojekt:
Worum geht es in der Studie?
Dr. Anja Rutenkröger: „Im Projekt geht es darum, gemeinsam mit den Angehörigen und Mitarbeitenden individuelle, biografisch orientierte Videobotschaften zu erstellen. Ziel ist es, neue und kreative Wege im Umgang mit herausfordernden Verhalten von Menschen mit Demenz in der Pflegepraxis zu gehen. Angehörige können auch aus der Ferne ganz nah bei ihren Nächsten sein und positiv auf herausforderndes Verhalten, wie z.B. schreien, schlagen oder ein zurückgezogenes, passives Verhalten, Einfluss nehmen.“
In welchen Situationen werden die Videobotschaften gezeigt?
Renate Berner: „Videobotschaften können Grußbotschaften oder Handlungsaufforderungen sein. Grußbotschaften haben das Ziel, zu erfreuen, zu beruhigen und zu stärken. Sie sprechen Themen an, die für die Person biografisch bedeutsam sind – sogenannte Herzensöffner. Das sind z.B. Musik, Natur oder Tiere. Circa 80 Prozent der aktuell 133 Videobotschaften sind Grußbotschaften. Die restlichen 20 Prozent sind Handlungsaufforderungen. Sie haben das Ziel, Menschen mit Demenz zu motivieren, beispielsweise etwas zu trinken, ihre Medikamente einzunehmen oder bei der Körperpflege zu unterstützen. Handlungsaufforderungen werden auch situationsentsprechend eingesetzt, wenn von Bewohner:innen zum Beispiel ein ablehnendes Verhalten erwartet wird. Das sind Situationen, in denen Bewohner:innen z.B. häufiger mit verbaler oder körperlicher Aggression reagieren.“
Wie sieht eine Videobotschaft eines Angehörigen beispielsweise aus?
Renate Berner: „In einer der Grußbotschaften fährt ein Sohn mit einer Aktionskamera auf dem Skihelm die Piste hinunter. Biografischer Hintergrund des Vaters ist, dass er die Berge geliebt hat und ein leidenschaftlicher Skifahrer war. In einer anderen Videobotschaft, einer Handlungsaufforderung, fordert eine Tochter ihre Mutter auf, ihre Medikamente einzunehmen. Die Praxis hat gezeigt, dass Videobotschaften sehr einfach gestaltet werden sollten: kurze, einfache Sätze wählen sowie langsam und deutlich sprechen und den Fokus auf nur eine Person, Tier, Landschaft etc. legen. Die Dauer beträgt meist 1-2 Minuten.“
Auf welche Weise bekommen die Bewohner die Botschaften zu sehen?
Dr. Anja Rutenkröger: „Wir konnten zwei Einrichtungen der Evangelischen Heimstiftung gewinnen und dort jeweils einen geschlossenen Wohnbereich für Menschen mit Demenz auswählen. Projektbeteiligt sind 15 Bewohner:innen, ihre Angehörigen und Mitarbeitende. Die Wohnbereiche haben Tablets zur Verfügung gestellt bekommen. Die Ideen für die biografiebezogenen Videobotschaften werden von den Angehörigen und Mitarbeitenden gemeinsam in Workshops erarbeitet. Angehörige nehmen die Videobotschaften auf und laden diese mit dem Smartphone in der Myo-App hoch. Die Mitarbeitenden zeigen die Videobotschaften in Situationen, in denen herausforderndes Verhalten zu erwarten ist, wie z.B. wenn jemand traurig wirkt oder nicht trinken möchte.
Durch die Nutzung der App kann gewährleistet werden, dass die Angehörigen nur Zugang zu den Videobotschaften ihrer Angehörigen haben, während die Mitarbeitenden auf alle Bewohner:innen ihres Wohnbereiches zugreifen können. Die Kommentarfunktion von Myo hat sich als wertvoll erwiesen, um ein direktes Feedback zwischen Angehörigen und Mitarbeitenden zu ermöglichen.“
Gibt es schon Erkenntnisse?
Dr. Anja Rutenkröger: „Wir haben aktuell unsere achtmonatige Erhebungsphase abgeschlossen. Bereits jetzt wird deutlich, dass die Bewohner:innen, Angehörigen und Mitarbeiter:innen auf unterschiedliche Weise profitieren.
Die Bewohner:innen reagieren in unterschiedlichen Nuancen vorwiegend positiv auf die Videobotschaften. Manche lächeln und fixieren den Bildschirm, andere singen, summen oder wippen mit dem Oberkörper oder lassen sich zu einer Handlung motivieren. Häufig werden Bezugspersonen begrüßt: „Da ist er ja – mein Sohnemann“ oder verabschiedet: „Ich habe dich auch lieb“. Die Bewohner:innen wirken oftmals noch Minuten nach einer gezeigten Videobotschaft angeregt und wacher. Anzeichen von Ablehnung gibt es selten. Kein/e Bewohner:in lehnt Videobotschaften durchgängig ab. Beim nächsten Angebot sind die Bewohner:innen häufig wieder hoch erfreut und interessiert. In keinem Fall erfolgt eine Verstärkung der herausfordernden Verhaltensweisen."
Renate Berner:
„Angehörige fühlen sich über die Distanz verbunden, auch wenn sie z.B. in den USA leben. Sie fühlen sich entlastet. Mitarbeitende ermöglichen und erfahren person-zentrierte Einzelkontakte und vertiefen ihre Fachkompetenz. Sie fühlen sich unterstützt und entlastet. Ein Bewohner zeigte beispielsweise abwehrendes Verhalten bei Pflegetätigkeiten. Daraufhin nahm die Ehefrau Handlungsaufforderungen zu den Themen Rasieren, Zähneputzen und Körperpflege auf. Diese wurden dem Bewohner vor der geplanten Pflegetätigkeit gezeigt. Die Handlungsaufforderungen haben gewirkt, wie eine Mitarbeitende uns berichtete.“
Wie kann die Übertragbarkeit der Projektergebnisse gewährleistet werden?
Dr. Anja Rutenkröger: „Die Demenz Support Stuttgart erstellt einen Methodenkoffer, der das praxisnahe „Handwerkszeug“ enthält, um Videobotschaften zu erstellen, Akteur:innen einzubinden und die erforderliche Technik bereitzustellen. Den Methodenkoffer stellen wir nach Abschluss der Studie auf unserer Homepage unter dem Projekt Videobotschaften zur Verfügung. So wird die Übertragbarkeit und Weiterverbreitung der Studienergebnisse ermöglicht. Videobotschaften sind, wie eine Angehörige erklärt, „eine super Möglichkeit. So ein Video zu machen ist echt so einfach, eigentlich wie ein Selfie. Das kann doch jeder mit dem Handy“.“
Vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Larissa Mayer von der Myositis GmbH.